M. Fischer u.a. (Hrsg.): Amerika-Euphorie – Amerika-Hysterie

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Title
Amerika-Euphorie – Amerika-Hysterie. Populäre Musik made in USA in der Wahrnehmung der Deutschen 1914–2014. Zum 100-jährigen Bestehen des Deutschen Volksliedarchivs und zur Gründung des Zentrums für Populäre Kultur und Musik


Editor(s)
Fischer, Michael; Jost, Christofer
Series
Populäre Kultur und Musik 20
Published
Münster 2017: Waxmann Verlag
Extent
387 S.
Price
€ 49,90
Reviewed for H-Soz-Kult by
Georg Götz, Universität Vechta

Der umfangreiche Sammelband vereint insgesamt 19 Beiträge eines Symposiums vom November 2014, mit dem das Zentrum für Populäre Kultur und Musik der Universität Freiburg (ZPKM) den 100. Gründungstag des Deutschen Volksliedarchivs beging.1 Das Archiv wurde im Frühjahr 2014 in das neugegründete ZPKM eingegliedert. Der Rezensent hat sich von dem vorliegenden Band eine Art Grundsatzprogramm erwartet, in dem einerseits auf 100 Jahre Forschung zurückgeblickt, aber doch auch ein Anspruch für die Zukunft formuliert werden soll.

Selbstverständlich ist die populäre Musik Deutschlands wie auch die der allermeisten anderen Länder nicht zu verstehen ohne den formativen Einfluss der US-amerikanischen populären Musik. Wer von populärer Musik redet, kann von Amerika nicht schweigen. Die Herausgeber fragen danach, wie sich amerikanische Musik in deutschen Teil- oder Jugendkulturen angeeignet wurde, wie die USA in medialen Diskursen repräsentiert war und wie die deutsche bzw. deutschsprachige Musik amerikanische musikalische Ausdrucksweisen adaptierte.

Der Band ist in vier Abschnitte untergliedert, auf die sich die Beiträge etwas ungleich verteilen. So widmen sich sechs Beiträge der Zeit von 1914 bis 1945 und hier fast nur der Weimarer Zeit. Die Zeit von 1980 bis 2014 untersuchen nur drei Beiträge. Dementsprechend liegt auch der Schwerpunkt dieser Rezension auf den ersten Teilen.

Den Fokus legen die Beitragenden im ersten Teil „Neue Klänge in deutschen Landen, 1914-1945“ auf die Wahrnehmung von US-amerikanischem Jazz in Deutschland. Insgesamt werden die sechs Aufsätze des ersten Teils den Erwartungen mehr als gerecht. Hier sollen nur kurz einige Auffälligkeiten und Desiderata angezeigt werden: Mit wenigen Ausnahmen werden kaum Überlegungen zur Rolle des Radios, zur Organisation von Schallplattenproduktionen oder von Tourneen, Studios, Bühnen usw. angestellt. Dabei wäre auch für die Rezeptionsforschung von Interesse, auf welche Weise etwa der Austausch von Schallplatten organisiert wurde oder wer Tourneen amerikanischer Künstler/innen organisiert hat. Fast alle Beiträge legen ihren Schwerpunkt auf den Jazz. Man könnte dadurch den Eindruck gewinnen, dass andere US-amerikanische Musik in Deutschland nicht rezipiert worden sei. Und alle Aufsätze konzentrieren sich entweder explizit oder implizit durch die Wahl ihrer Quellen auf die Entwicklung in Berlin. Der Rezensent fragt sich, ob dies mit dem Fokus auf Jazz zusammenhängt, was auch den zeitlichen Fokus auf die Weimarer Republik erklären würde.

Der zweite Teil thematisiert die Zeit vor der Anglisierung der Hitparaden: Für die Ära „von Besatzern, Freunden und Feinden, 1945-1960“ (S. 147) stellt sich die Frage nach dem Amerikanisierungsprozess besonders. Kaspar Maase stellt einleitend die „Eindeutschung und Beheimatung“ (S. 150) von US-Kompositionen dar und ordnet die Rezeption dieser Klänge ein. Er zeigt, dass schon die Definition „amerikanischer Musik“ schwerfällt. Amerikanische Musik konnte zunächst einfach Musik sein, die als amerikanisch galt, aber auch Musik, deren Rechte bei US-Firmen lagen (S. 150–155). Dies ist die vorherrschende Amerikanisierungsform: Nicht amerikanische Originalaufnahmen sind in den 1950er-Jahren populär, sondern für den deutschsprachigen Markt bearbeitete Titel.

Im Gegensatz zur landläufigen Vorstellung der 1950er-Jahre als Jahrzehnt des Rock'n'Roll ist dieser wenig präsent in der deutschen Unterhaltungsmusik. Bill Haleys „Rock Around the Clock“ beispielsweise ist 1956 der einzige US-Song in den westdeutschen Top 30. Gleichzeitig halten jedoch US-Firmen die Rechte an 41 der 100 beliebtesten Titel (S. 152). Michael Fischer nähert sich der Amerikanisierung über „Deutschlands ersten Rock'n'Roller“ Peter Kraus. Treffend ist seine Beschreibung des Diskurses über Schlager, die sich an Adornos Kulturkritik orientiert und einen auch heute noch wohlvertrauten Ton anschlägt: Schlager ist schlecht, weil Ware. Dies ist nun freilich nichts unbedingt Neues. Eher beiläufig arbeitet Fischer aber heraus, wie auch heute noch Narrative von Authentizität („echter Rock'n'Roll“) und Imitation (die „mindere“ deutsche Kopie) den Diskurs über deutschen Pop bestimmen (S. 214). Selbst heute noch wird Peter Kraus für seine „weichgespülte“ Tutti Frutti-Version kritisiert.2 Über den Zusammenhang zwischen Authentizitätsdiskurs und Amerikanisierung würde man hier gerne mehr lernen, vor allem da die angeblich fehlende Authentizität immer wieder als wesentliches Defizit der deutschen populären Musik angeführt wurde.3

Den dritten Teil zur Epoche von 1960 bis 1980 leitet Peter Wicke ein, der nochmals die Sonderstellung der Rockmusik in der Popgeschichte rekapituliert. Rockmusik eröffnete eben tatsächlich „neue Freiheiten“, so der Titel des dritten Abschnitts. Maria Schubert und Monika Bloss beschäftigen sich beide mit der Rezeption afroamerikanischer Musik in Deutschland. Schubert kann durch Archivrecherchen und Zeitzeugeninterviews zeigen, wie die Freedom Songs der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung dem DDR-Regime zwar willkommen waren, solange man sie gegen die „imperialistischen“ und „rassistischen“ USA in Stellung bringen konnte, dass aber – wie sie am Beispiel des sächsischen Theologen Theo Lehmann verdeutlicht – die DDR-Führung sehr zurecht fürchtete, dass die „unterdrückten Schwarzen“ leichter mit den Bürger/innen der DDR gleichgesetzt werden konnten, als der Führung lieb war. Lehmann gelang es unter erheblichen Schwierigkeiten, das erste Buch über US-amerikanische Spirituals in der DDR zu publizieren. Weil es auch Noten sowie englische und (von Lehmann selbst geschriebene) deutsche Texte enthielt, erlangte es erheblichen Einfluss auf Popmusiker/innen und -hörer/innen in der DDR. Seine Emphase auf die Freiheit des Einzelnen machte Lehmann aber auch zum bevorzugten Observationsobjekt der Staatssicherheit. Auf weitere Forschungsergebnisse zu diesem bis jetzt kaum beachteten Kulturtransfer darf man gespannt sein. Aufgrund der Kürze ihres Beitrages kann Schubert leider nur ganz kurz auf amerikanische Emigranten in die DDR eingehen, die wie Aubrey Pankey, Perry Friedman oder Dean Reed in der DDR-Musik – oft Soul- oder Folk-inspirierter Schlager – produzierten und die staatliche gelenkte Hootenanny- bzw. Singebewegung („Oktoberklub“, S. 263f.) unterstützten.

Interessante Einsichten liefert Bloss, wenn sie die zögerliche Rezeption von Soul Music in beiden deutschen Staaten auf die Rezeption von Rock und Beat zurückführt, die für zusätzliche Innovationen keinen Platz mehr ließen, aber vor allem auf die Tatsache, dass im entstehenden gegenkulturellen Mainstream Soul kein gegenkulturelles Chiffre werden konnte, weil die Ausrichtung auf Tanzbarkeit und Körperlichkeit seine Kodierung als Kunst oder politische Stellungnahme schwierig machten. Tanzen an sich galt zudem in beiden deutschen Gesellschaften als unmännlich, wie Bloss meint, während – so darf man ergänzen – Rockmusik Muster traditioneller Männlichkeit verstärken konnte.

Free Jazz wurde im Gegensatz zu Soul bereitwillig als Kunst wahrgenommen. Seine Rezeption wurde gerade dadurch ermöglicht, dass er nicht mehr wie noch in der Weimarer Republik als Tanzmusik aufgefasst wurde. Free Jazz scheint zudem auch deswegen leicht in den Kulturhaushalt der Deutschen integrierbar gewesen zu sein, weil er wesentlich Instrumentalmusik war, die prinzipiell auch von Deutschen gespielt werden konnte. Dies war bei Soul ganz anders, zumal der entstehende Authentizitätsdiskurs Soul fest an farbige US-Amerikaner/innen band. Die weitgehend ähnliche Rezeption von Soul und Free Jazz in beiden deutschen Staaten erklärt Bloss (S. 248) mit der Persistenz traditioneller Kunst- und Kulturbegriffe, die die West- und Ostdeutschen in dieser Hinsicht ähnlicher machte, als ihnen bewusst war.

Der letzte und vierte Teil stellt die Frage „Vollamerikanisiert? 1980-2014“, die von den drei Beiträgen aber verneint wird. Dem Band geht hier etwas die Luft aus: Gibt es zur Epoche seit 1980 wirklich nicht mehr zu berichten als Neue Deutsche Welle, Rammstein und Hip-Hop? Haben technologische Entwicklungen wie die Compact Disc oder Filesharing, überhaupt der ganze Bereich der Digitalisierung, nichts mit Amerikanisierung zu tun?

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich der Band einerseits hervorragend als Einstieg in den Themenkomplex „Amerikanisierung und populäre Kultur“ eignet. Dies gilt namentlich für das erste, sehr umfangreiche Kapitel zur Weimarer Republik. Andererseits sind die Beiträge sehr unterschiedlich konzipiert: Im zweiten Teil analysiert Pabst etwa ein einzelnes Hörspiel, woran er essayistische Überlegungen anschließt, Weissenbacher bietet einen lexikonartigen Überblicksartikel und Ivkov wertet eine E-Mail-Umfrage aus. Obwohl dies nicht gegen die einzelnen Aufsätze per se spricht, wird dadurch die Chance zum Erkenntnisgewinn gemindert. Der Band ist eher Mosaik als Monumentalgemälde. Die Heterogenität der Beiträge zeigt einmal mehr, wie viel Arbeit einer Geschichte der populären Kultur in der Zeit nach 1914 noch bevorsteht. Schwerer wiegt jedoch die Tatsache, dass die Ebene der Medien, der Technik und der (Musik-)Wirtschaft im ganzen Band fehlt: Populäre Musik wird nicht als inszeniertes Radio- oder TV-Ereignis erfasst; Radio, Langspielplatte oder Kassette werden so gut wie gar nicht in den Blick genommen, die Verflechtungen amerikanischer und deutscher Plattenfirmen, Verleger oder Konzertveranstalter nicht thematisiert. Diese Kritik mag altklug erscheinen: Dem Rezensenten ist wohl bewusst, dass Sammelbände immer Auswahlcharakter besitzen und man es nie allen Recht machen kann. Aber der Band kann trotz der Vielzahl an interessanten Einblicken die in ihn gesetzten Hoffnungen nicht ganz erfüllen.

Anmerkungen:
1 Michael Fischer / Christofer Jost, Amerika-Euphorie – Amerika-Hysterie. Populäre Musik made in USA in der Wahrnehmung der Deutschen 1914–2014, 13.11.2014–15.11.2014, Freiburg im Breisgau, in: H-Soz-Kult, 18.10.2013, https:// www.hsozkult.de/event/id/termine-23177 (10.08.2019).
2 Vgl. André Port LeRoi, Schlager lügen nicht. Deutscher Schlager und Politik in ihrer Zeit, Essen 1998; Rüdiger Bloemeke, Roll over Beethoven. Wie der Rock'n'Roll nach Deutschland kam, St. Andrä-Wördern 1996.
3 Klaus Nathaus, Nationale Produktionssysteme im transatlantischen Kulturtransfer. Zur Amerikanisierung populärer Musik in Westdeutschland und Großbritannien im Vergleich. 1950-1980, in: Werner Abelshauser (Hrsg.), Kulturen der Weltwirtschaft, Göttingen 2012, S. 202–227, hier S. 225.

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